Der Idealist

Die Klimajugend muss den Druck aufrechthalten, wenn sie weiterbestehen will. Wird sie das schaffen? Unterwegs mit Emanuel Wehrli.

Emanuel Wehrli steht auf einem wackligen Tisch, fast weht es ihm die Notizen weg. Er stimmt die Aktivistinnen und Aktivisten, die die halbe Steinberggasse füllen, auf die Demo ein. An diesem Freitag Ende November geht es nicht nur ums Klima, sondern auch um eine Gesellschaft, die es sich auf Kosten anderer gut gehen lässt.

Wehrli spricht ins Mikrofon:

«Wozu brauchen wir Überproduktion? Wozu Überkonsum? Werbung?» Die Winterthurer Klimaaktivisten fordern ein Werbeverbot für Winterthur.

Emanuel Wehrli, 16-jähriger Gymnasiast aus Guntalingen, will die Gesellschaft neu denken. «Es gibt eine Notwendigkeit, dass wir uns als politische Subjekte verstehen.» Vor zwei Jahren diskutierte er mit seinen Eltern über Palmöl und Plastik, bis ihm klar wurde: Die Probleme sind grösser. «Der globalen Wirtschaft wird keine globale Politik entgegengesetzt», sagt er, während er mit seinem Haargummi spielt. Grosse Konzerne könnten tun, wie es ihnen beliebt. Sein Feind heute heisst nicht Plastik, sondern Glencore.

Für eine bessere Welt kämpft Wehrli gleich in mehreren Gruppen: Er engagiert sich bei der GsoA ebenso wie bei den jungen Grünen, hat am Gymnasium Rychenberg eine Klimagruppe gegründet, dort für den Klimaanzeiger geschrieben und einen Kleidertausch organisiert. Die Frage, wo da die Freizeit bleibe, irritiert ihn: «Was soll ich damit? Fussball spielen? Serien schauen? Das fände ich alles wahnsinnig viel sinnloser.»


Wehrli in der Steinberggasse: «Wir überlegen uns nicht, ob man von Glühbirnen zu LED wechseln soll, sondern wie unsere Altstadt ohne Konzerne aussehen könnte»

Drei grosse Herausforderungen

Über ein Jahr gehen Emanuel Wehrli und andere Aktivistinnen und Aktivisten schon für ein besseres Klima auf die Strasse, schreien sich die Stimme heiser. Wie lange können sie das durchziehen? Laut Peter Rieker, der an der Universität Zürich zu politischer Partizipation Jugendlicher forscht, gibt es jetzt drei grosse Herausforderungen:


Das Problem der Breite: Politischer Druck wirkt nur durch Masse. Wenn die Jungen breit aufgestellt bleiben wollen, dürfen sie niemanden vor den Kopf stossen. Heikel ist vor allem die Forderung, dass es einen Systemwandel brauche, wenn die Klimaziele erreicht werden sollen. Die Grundsatzfrage: Lässt sich das Klimaproblem mit wirtschaftlichem Wachstum vereinbaren, oder braucht es eine Überwindung des Kapitalismus? «Letzteres könnte konservative Kräfte in der Bewegung abschrecken», sagt Rieker.

Das Problem der Professionalisierung: Eine nachhaltige Bewegung braucht Strukturen. Eine Organisation, die es ermöglicht, Medienpräsenz aufrecht zu halten, die Basis zu tragen und die Bewegung von innen heraus weiterzuentwickeln. Die grosse Gefahr ist laut Rieker, dass sich wenige abkoppeln und so die Unterstützung der Basis verlieren. Die meisten Bewegungen verschwinden wieder. Occupy Wall Street tauchte 2011 aus dem Nichts auf, war überall in den Medien – und ein Jahr später vergessen. Die Gelbwestenbewegung in Frankreich ist zwar nicht tot, sucht aber verzweifelt neuen Schwung.

Das Problem der Institutionalisierung: Die Klimajugendlichen müssen es schaffen, ihre Forderungen in die Politik zu bringen. Sie brauchen Bündnispartner. Gleichzeitig müssen sie politisch unabhängig sein, um breit aufgestellt zu bleiben.

Wie können diese Herausforderungen gemeistert werden? «Es ist eine Gratwanderung», sagt Rieker. «Die Aktivistinnen können in alle Richtungen abstürzen.»

Zwar sind die grünen Parteien heute stärker im Parlament vertreten als vor den Wahlen, doch die Zeichen in der Politik stehen trotzdem schlecht: Die Bundesratskandidatur der Grünen scheiterte, in den Zeitungen waren die Black-Friday-Demos nur noch eine Randnotiz. Der Klimagipfel in Madrid endete ohne Fortschritte, und eine Befragung des Forschungsinstituts Sotomo ergab, dass der Widerstand gegen Klimamassnahmen zunimmt. Auch die Diskussion um das CO2-Gesetz zeigt: Dass Abgaben ins Geld gehen, ist vielen wichtiger als die Sorge ums Klima.

«Vom Protest zum Widerstand»

Einen Vorgeschmack darauf, wie die Winterthurer Klimajugend in Zukunft auftreten will, bekommt man Ende November, beim unbewilligten Black-Friday-Protest im Einkaufszentrum Rosenberg:

Protestaktion: 20 Jugendliche rollen Transparente aus, legen sich zu einem «die-in» auf den Boden und stürmen mit dem Banner «System change, not climate change» die H&M-Filiale.

Radikal sei nicht ihre Aktion, sondern die Situation der Erde, sagen die Jugendlichen danach gegenüber den Medien. Es brauche harmlose Gesetzesverstösse, um gegen viel grössere Missstände aufmerksam zu machen. Damit bedienen sie sich der gleichen Worte wie die Organisation Extinction Rebellion, für die ziviler Ungehorsam der einzige Weg ist, das Klima zu retten. Sie färbte die Limmat grün und blockierte in Lausanne mehrfach eine wichtige Verkehrsachse.

Die Winterthurer Aktivistinnen und Aktivisten sagen offen, dass sie zivilen Ungehorsam in Zukunft nicht ausschliessen. Bereits im Oktober stellten sie sich am Militär-Defilee Panzern in den Weg. Sie solidarisierten sich mit «Ende Gelände», einer deutschen Gruppierung, die Braunkohlereviere stürmte. Und an der Black-Friday-Demo gab es tosenden Applaus für die Aussage: «Wenn wir die Klimakrise stoppen wollen, müssen wir vom Protest zum Widerstand übergehen.»

Das sieht auch Emanuel Wehrli so. Er sagt: «Man kann nicht an ein paar Schrauben drehen und denken, das ändere etwas.» Die Klimastreikbewegung befasse sich mit den grossen Fragen, das gefalle ihm. «Wir überlegen uns nicht, ob man von Glühbirnen zu LED wechseln soll, sondern wie unsere Altstadt ohne grosse Konzerne, Ketten und kurzlebige Produkte aussehen könnte.» Unklar ist allerdings, wann er für die Bewegung spricht – und wann eher für sich selbst.

Man müsse «ganzheitlicher» denken, sagt Wehrli. Würde man nur noch so viel produzieren, wie es unsere natürlichen Ressourcen zulassen, gäbe es keine Bullshit-Jobs, keinen H&M. Dafür müsse man sich dann Gedanken um ein bedingungsloses Grundeinkommen machen. Wie genau sieht das aus? «Ich bin kein Ökonom, andere wissen das besser als ich.»

«Wir sind wandelbar»

Um die Zukunft der Bewegung macht sich Wehrli keine Sorgen:.«Wir sind sehr wandelbar.» Das wichtigste Projekt sei der «Strike for Future» nächsten Mai, für den die Klimajugend mit Gewerkschaften zusammenspannt, um «ökonomische Zusammenhänge und Arbeitsreduktion» anzusprechen. «Er soll in die Geschichte eingehen», sagt Wehrli.

Seine eigene Zukunft ist ungewisser: Die Matur ist in eineinhalb Jahren, aufs nächste Jahr wechselt er die Schule, um mehr Zeit für den Klimastreik zu haben. Was er später arbeiten möchte? Etwas mit Permakultur vielleicht. An einem Ort, an dem er mitbestimmen kann. «Ich plane nicht so weit», sagt er.

Der Demonstrationszug hat die Stadthausstrasse fast schon hinter sich und nähert sich dem Hauptbahnhof:



Rund 300 Menschen sind gekommen, im April waren es noch 6000, darunter Stadt- und Nationalräte, bekannte Winterthurer wie Peter Stamm und Bettina Stefanini. Während sich die Gruppe dem Hauptbahnhof nähert und ihr «On est plus chaud que le climat» ruft, bleiben Passanten stehen, einige filmen, wenige nerven sich.

Wehrli zieht den Demowagen, aber auch er merkt: Um die Schnäppchenjagd wirklich zu stören, sind die Aktivistinnen an diesem Abend zu wenige.

© Tamedia