Der Vollzeitaktivist

Linus Stampfli hat für die Klimabewegung sein Studium auf Eis gelegt. Er sagt, keine Universität könne so viel bewirken wie der Klimastreik. Was hat die Bewegung nach einem Jahr auf der Strasse erreicht?

Samstagnachmittag, Bern. Linus Stampfli ist am Gymnasium Neufeld, um die Welt zu retten - wie zweihundert andere junge Menschen auch. Der Winterthurer nimmt teil am nationalen Klimatreffen, oder «NatMeeting», wie die Aktivistinnen und Aktivisten es nennen. Zum fünften Mal bereits, seit Jugendliche aus der ganzen Schweiz vor einem Jahr erstmals für eine wirksamere Klimapolitik protestiert haben.

Man teilt sich auf, in die Mensa, in Schulzimmer, manche bleiben im Foyer. Jede Gruppe übernimmt eine andere Aufgabe: Positionspapiere ausarbeiten, den «Strike for Future» organisieren, Strategien entwickeln.

Stampfli – raspelkurzes Haar, farbiger Strickpullover – ist eine der tragenden Figuren des Winterthurer Klimastreiks. Selbst sagen würde er das nie. Für die Klimajugendlichen gibt es nicht wichtige und weniger wichtige Leute, es gibt nur Menschen mit mehr und solche mit weniger Zeit. Er hat sich der Gruppe angeschlossen, die sich im vierten Stock mit der Rolle von «Klimastreik Schweiz» auseinandersetzt, so der offizielle Name der Bewegung. Welche Position soll man im Kampf gegen den Klimawandel einnehmen? Es geht um das sogenannte Eisbrechermodell. Dessen Ziel: über radikale Forderungen den Denkhorizont in Gesellschaft und Politik erweitern. Einfacher: «Wir wollen verändern, was sagbar ist», sagt er.

Der 24-jährige Vollzeitaktivist hat das Modell mitentwickelt – und findet, es funktioniere. «Früher sprach niemand davon, die Treibhausgasemissionen auf netto-null zu senken. Seit wir das fürs Jahr 2030 fordern, hat die GLP ein Papier veröffentlicht, in dem sie das Ziel immerhin bis 2040 erreichen will.»

Die Fragen, die sich die Aktivistinnen und Aktivisten aus Bern und Zürich, aber auch aus dem Bündnerland und der Romandie nun stellen: Welche Inhalte wollen wir vermitteln? Wie kommunizieren wir? Und wie kritisieren wir das System, ohne als kommunistisch oder ideologisch abgestempelt zu werden?

Der Austausch ist freundlich: Man hebt die Hand, bevor man spricht, flattert mit den Händen, um Zustimmung ausdrücken, oder kreuzt die Arme vor der Brust, wenn man eine Äusserung ablehnt.


Die Aktivistinnen und Aktivisten diskutieren im vierten Stock vor schönster Schweizer Bergkulisse

Bald geht es um Grundsätzliches: Sind wir nur so erfolgreich, weil wir so zugänglich sind? Sollen wir reformistischer auftreten, vielleicht sogar revolutionär? Andri aus Zürich fragt: «Was wollen wir überhaupt?» Am Ende ist die Verwirrung grösser als die Erkenntnis. Wie es mit dem Modell weitergeht, bleibt offen.

Das Studium muss warten

Zurück in Winterthur, sagt Linus Stampfli im Gespräch, dass es ihm bei den nationalen Treffen weniger darum gehe, Entscheide zu treffen, als darum, Inputs von anderen Gruppen abzuholen. Er sitzt im Hinteren Hecht, einem Café beim Oberen Graben. Es ist das Stammlokal der lokalen Klimabewegung, weil es im Hinterhof einen Co-Working-Space hat. Im Unterschied zu Zürich oder Bern gibt es in Winterthur keinen fixen Klima-Raum.

Stampfli spricht leise und überlegt, auf einem blauen Zettelchen hat er sich Notizen fürs Interview gemacht.

Um fürs Klima zu kämpfen, hat er sein früheres Leben aufgegeben, zumindest für den Moment. Er ist Hochbauzeichner, wollte ab September an der ETH Umweltwissenschaften studieren. Heute hat in seinem Leben nichts anderes mehr Platz als der Klimastreik. Freizeit heisst für ihn: Mit Menschen aus der Bewegung übers Klima reden. Sich fragen, was ein gutes Leben ist und wie man das mit der Bewegung erreicht.


Mit Lieblingspulli: Linus Stampfli im Hinterhof des Café Hecht.

Es fing an wie bei vielen. Anfang 2019 verfolgte er, wie immer mehr Schülerinnen freitags auf die Strasse gingen. Er hatte sich schon länger Sorgen ums Klima gemacht, sich als Einzelner aber machtlos gefühlt. Jetzt merkte er, dass es anderen genauso ging. «Das war eine Erleichterung.» Als er im März die Abschlussprüfungen der Passerelle bestanden hatte, schloss er sich der Bewegung an. Organisierte Sitzungen, schrieb Protokolle und Medienmitteilungen, koordinierte «netto.null», das Magazin der Klimabewegung.

Was er tat, war ihm bald so wichtig, dass er nicht loslassen konnte. Eigentlich wollte er mit Freundinnen ab Juni für vier Monate auf eine Alp. Im August folgte er ihnen, spürte aber schnell: «Ich kann nicht nicht aktiv sein.» Schlussendlich hielt es ihn nur zwanzig Tage dort. «Ich sah, welche Wirkung diese Bewegung hat, und merkte: Wenn ich mich jetzt einsetze, kann ich etwas verändern.»

Von Stockholm nach Winterthur

Diese Bewegung, von der Linus Stampfli spricht, dieses Feuer – all das nahm seinen Anfang im August 2018:

Der Kampf ist nicht zu Ende

Anruf bei Peter Rieker, der sich als Erziehungswissenschaftler an der Universität Zürich mit politischer Partizipation Jugendlicher befasst. Von einem Gamechanger, wie es der «Tagesanzeiger» schrieb, will er nicht sprechen, sagt aber: Die Bewegung habe dazu beigetragen, dass das Thema im Alltag angekommen sei, am Familientisch. «Die Leute überprüfen ihr Verhalten.» Im Unterschied zu vielen politischen Themen, bei denen man denke, das würden sowieso «die da oben» entscheiden, hätten Menschen beim Klima das Gefühl, das gehe sie etwas an. «Das ist eine unschätzbare Leistung.»

Im Hinteren Hecht sagt Linus Stampfli: «Die grünen Parteien haben mehr Freude an ihrem Erfolg als wir.» Ein grüneres Parlament heisst für ihn nicht, dass nun tatsächlich genug fürs Klima gemacht wird. Laut ihren Forderungen müsste die Schweiz 2020 jährlich 13 Prozent weniger Emissionen produzieren, will sie den Klimawandel massgeblich bremsen. «So viel hat die Schweiz seit 1991 insgesamt reduziert.» Wer dann zufrieden sei mit einer Flugticketabgabe von 30 bis 120 Franken, habe das Prinzip der Lenkungsabgabe nicht verstanden, so Stampfli. «Sie muss wehtun, sonst ist es keine.»

Für ihn heisst das: Die Arbeit der Klimajugendlichen ist noch lange nicht erledigt. Sie müssen weiterkämpfen, den Druck aufrechterhalten, auch er - so lange, bis das Klima gerettet ist.

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