Annika Müller spricht so nüchtern, als wäre sie eine gestandene Sachpolitikerin. Über Demokratieverständnis oder die Entkoppelung von Wirtschaft und Politik. Dabei ist Müller – dichte Locken, schüchternes Lächeln – erst 18.

Ein Dienstagabend im November. Müller sitzt im Dachstock der Integralen Tagesschule, einer Privatschule an der Nelkenstrasse, im letzten Plenum vor der Black-Friday-Demo. 19 Leute sind gekommen, viele zum ersten Mal. Es geht um Geld – und den Vorschlag, dass eine Arbeitsgruppe bis zu einem Betrag von 2500 Franken selbst über die Verwendung entscheiden dürfe. Nein, finden einige, damit gehe zu viel Macht einher: Ausgaben ab 1000 Franken müssten vom Plenum abgesegnet werden.


Die Anhänger der Klimabewegung bei ihrem «Check-in» am Plenum. Jede erzählt dem Gegenüber etwas, das mit «Ich wünsche mir...» beginnt.

Die Debattierregeln sind klar: Wer zuerst aufstreckt, ist als Erste an der Reihe. Kommt jemand nicht auf den Punkt, führt man die Hände zu einem Speer zusammen, schweift jemand ab, zeichnet man einen Rahmen in die Luft.

Verstehen, was in der Welt passiert

Müller ist sechs, als sie zu politisieren beginnt: Die Schülerin aus Veltheim setzt bei den Eltern durch, dass kein Tisch aus Regenwaldholz ins Haus kommt. Mit 17 sammelt sie Unterschriften für die Gletscherinitiative, diesen Frühling baut sie das Winterthurer Jugendparlament mit auf. Und im Juli macht sie am Gymnasium Rychenberg die Matura, die Abschlussarbeit handelt von Mikroplastik. Für die Klimabewegung fasst sie in der Folge den IPCC-Bericht des Weltklimarats zusammen.

Müller interessiert sich dafür, was im Parlament passiert. Schon länger schaut sie mit ihren Eltern vor Abstimmungen die Politsendung «Arena», liest Artikel, diskutiert mit Freunden. «Ich wollte verstehen, was in der Welt passiert», sagt sie. «Je besser man versteht, desto besser kann man auch die Politik einschätzen.»

Mit ihrem Interesse ist sie in ihrem Alter eine Ausnahme. Laut dem Politikmonitor von Easyvote interessieren sich Junge selten für institutionelle Politik - und wenn doch, dann für Sachthemen, nicht Parteien. Warum? Müller hat eine These: «Will man richtig abstimmen, muss man wissen, wie man sich eine fundierte Meinung bildet. Wo kann ich mich informieren? Wie unterscheide ich eine gute Quelle von einer schlechten?» Darauf werde in der Schule zu wenig eingegangen.


Annika Müller auf der Treppe zum Stadthaus, wo der Stadtrat bis 2015 seinen Sitz hatte.

Richtig politisiert habe sie aber erst der Klimastreik: Weil sie sich dann zum ersten Mal detaillierter mit dem Klimawandel befasste. «Ich merkte, dass die Politik weit davon entfernt ist, etwas dagegen zu machen und dass es den Druck von uns mehr denn je braucht», sagt sie.

Wie Müller ging es vielen, der Klimastreik hat eine ganze Generation politisiert. Laut dem Erziehungswissenschaftler Peter Rieker, der sich mit jugendlichem Engagement befasst, braucht es zwei Dinge, damit eine Bewegung diese Wirkung entfalten kann. Erstens ein besonderes Ereignis, an dem sich ein Problem festmachen lässt – 2011 beispielsweise der Tsunami in Japan, der eine Nuklearkatastrophe in Fukushima auslöste (siehe: Der Fukushima-Effekt), jüngst der Austritt der USA aus dem Klimaabkommen.

Und zweitens braucht es einen sogenannten Kristallisationspunkt. In diesem Fall: Greta Thunberg. Sie war die richtige Person zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Sie benannte das Problem mit einfachen Worten. Sie war konsequent, etwa als sie nicht mit dem Flugzeug, sondern mit dem Segelschiff in die USA reiste. Und mit ihrem Schulstreik jeweils am Freitag bot sie auch Schweizer Schülerinnen und Schülern einen konkreten Ansatz.

Mit der Klimabewegung wächst eine Generation heran, die sich nicht nur für die eigene Zukunft verantwortlich fühlt und die es als notwendig erachtet, sich politisch zu engagieren. Nur sehen viele Klimajugendliche ihre Rolle nicht in der institutionellen Politik: Die sei träge, sagen sie, das Klima nur ein Thema unter vielen, und Parlamentarier seien ohnehin von Lobbyisten abhängig. Ihre begrenzten Kapazitäten, so diese Klimajugendlichen, seien auf der Strasse besser eingesetzt.

Bootcamp fürs Parlament

Dabei ist die Klimabewegung, das erfährt man beim Zuhören im Dachstock, auch eine Art politisches Trainingslager: Man lernt, Spannungen auszuhalten, Argumente zu verfeinern, Strategien zu entwickeln. Wer politisches Talent hat, kann es in einer Bewegung entdecken, Beispiele aus dem Bundeshaus gibt es genug: Der grüne Nationalrat Balthasar Glättli protestierte mit 23 gegen die Atomversuche in Frankreich, der ehemalige SVP-Nationalrat Toni Brunner ging 1992 gegen den EWR-Beitritt auf die Strasse.

Nach einer Stunde angeregten Diskutierens kommt man im Dachstock zur Abstimmung. Der Finanzvorschlag wird angenommen, bei fünf Enthaltungen. Die Einwände waren dann doch nicht schwerwiegend genug.

Und was hat Annika Müller gelernt im Klimastreik? Sie sagt, sie traue sich nun, ihre Meinung zu vertreten, «zu Beginn habe ich kaum etwas gesagt, wenn 40 Leute im Publikum sassen». Sie sei offener, es falle ihr leichter, auf Fremde zuzugehen. Und sie wisse nun, wie eine gesunde Diskussionskultur aussehe: Man unterbricht sich nicht, aber verlangt von den Mitdiskutierenden trotzdem, dass sie auf den Punkt kommen.

Nächsten Herbst will Müller ihr Studium beginnen. Sie hatte an die ETH gedacht, am ehesten Umweltwissenschaften, aber nun zieht es sie doch eher zu den Geisteswissenschaften. Die politische Komponente, findet sie, darf nicht fehlen.