Die Unbeirrbare

Greta Thunberg mobilisiert die Massen, Schweizer Klimajugendliche aber wollen den Personenkult mit allen Mitteln vermeiden. Wer sind die Leute, die sich selbst nur im Kollektiv sehen? Unterwegs mit Selma Wydler.

Kalt ist es, so kalt, dass die nackten Finger nach wenigen Minuten taub werden. Selma Wydler hat sich in einen dicken Schal eingewickelt, gestrickte Stulpen wärmen ihre Beine. Freundlich lächelnd drückt sie Passanten Flyer für die nächste Demonstration in die Hand. Am Stand gegenüber gibt es Tee aus der Thermoskanne.

Es ist ein Samstagmorgen im November, und in der Marktgasse geht es ums Klima. Wydler, eine 24-jährige Primarlehrerin, hat einen Sack Einmachgläser dabei, nach dem Flyern will sie im Unverpackt-Laden den Wocheneinkauf erledigen. Selbst manche Klimaaktivisten dürften sie noch um ihre Konsequenz beneiden: Sie ist Vegetarierin, verzichtet möglichst auf Milchprodukte, fliegt nicht. Sie sagt: «Selbstverständlich.» Kleider kauft sie auf dem Flohmarkt oder im Second-Hand-Laden, und während andere Aktivisten ihre iPhones mit Klimastickern zupflastern und dabei die schlechte Umweltbilanz und die fragwürdigen Herstellungsbedingungen ausblenden, ist Selma Wydler nur über ihr Nokia-Handy erreichbar, das fast so alt ist wie sie selbst.

«Es ist mir ein grosses Anliegen, dass es weiterhin einen Planeten gibt, auf dem wir leben können.»

«Ich will als Einzelne nicht wichtig sein»

Trotzdem: Selma Wydler will nicht über die eigene Nachhaltigkeit reden. Sie sagt: Der individuelle Konsum sei zweitrangig, es gehe ums grosse Ganze. «Es nervt mich, wenn Leute finden, die Klimakrise sei lösbar, indem man auf Plastiksäckchen im Coop verzichtet.» Das sei zwar wichtig für die Sensibilisierung, aber dadurch werde die Welt nicht besser. Für wirkliche Veränderung brauche es politische Lösungen.

Darin sind sich die Klimajugendlichen einig. Bei der Frage, was eine wirksame Klimapolitik konkret beinhaltet, hört die Eintracht aber auf. Das hat auch mit der dezentralen Organisation in 24 Regionalgruppen zu tun. Die Bewegung funktioniert basisdemokratisch: Entscheide werden im Konsens gefällt, Hierarchien und Führungspersonen soll es keine geben. Das macht sie schwer fassbar, Mitglieder im konventionellen Sinn gibt es nicht. In Winterthur gehört Selma Wydler wie etwa 20 andere zum inneren Kreis, 300 Personen sind im Chat.

Als sie Ende Oktober, wenige Tage vor dem Flyern in der Marktgasse, zusammen mit einem Dutzend anderer Klimajugendlichen den Jugendpreis der Stadt entgegennimmt, sagte SP-Stadtrat Nicolas Galladé zu den Aktivistinnen: «Man hört viel über die Klimabewegung, weiss aber gar nicht, wer die sind.» Es sei wichtig, einmal zu sehen, wer sich da überhaupt engagiere.


Das Engagement der Jugendlichen wird von der Stadt mit 10'000 Franken gewürdigt. Das sei nicht als politische Stellungnahme zu deuten, sagte der Stadtrat.

Es gehe um die Sache, sagen die Jugendlichen dann jeweils, und nicht um die Person. Auch Wydler sagt: «Ich will als Einzelne nicht wichtig sein.» Sie sieht sich als Teil eines Ganzen, will gemeinsam mit anderen etwas erarbeiten, im Kollektiv auftreten. Darum könne sie es sich auch nicht vorstellen, in die Politik zu gehen.

Für die Klimastreik-Serie wollte der «Landbote» auch Caesar Anderegg porträtieren, eine der sichtbarsten Figuren der Winterthurer Bewegung. Doch die Gruppe sagte Nein. Man wolle keinen Personenkult fördern und auch nicht abhängig von Einzelnen werden.

Die Jugendlichen setzen auf Breite: Alle können mitmachen, wo und wann sie wollen. Die Strukturen sind durchlässig und niederschwellig. Man will niemanden vor den Kopf stossen, und fühlt sich trotzdem jemand unwohl, muss man mit den Händen nur ein Dach über dem Kopf formen, und die Diskussion wird unterbrochen.

Fortführung einer Familientradition

Selma Wydlers erster Kontakt mit der Bewegung geht auf den Februar zurück, Klimademo in Zürich, ihre erste Kundgebung überhaupt. Sie sagt: «Überall Menschen, und alle kämpften für dasselbe. Das hatte eine riesige Wucht.»

Seither führt sie sozusagen eine Familientradition fort: Wydlers Eltern engagierten sich in den 1980er Jahren im Zentralamerika-Komitee und demonstrierten gegen die Militärdiktaturen in Nicaragua und Guatemala, ihr Vater reiste mehrmals dorthin. Das hat sie fasziniert: «Ich habe mir immer vorgestellt, wie es wäre, Teil einer Bewegung zu sein. Gemeinsam für etwas einzustehen, zu kämpfen.»


Das Engagement ihrer Eltern hat sie geprägt: Selma Wydler.

Viele freie Abende gehen bei Wydler fürs Klima drauf. Sie ist in die Streikplanung involviert, holt Bewilligungen ein, sucht Pavillons für die Reden. «Ich mache das nicht aus Spass», sagt sie. «Manchmal würde ich auch lieber chillen, statt zu einem Plenum zu gehen.» Es koste sie viel Energie und beschäftige sie auch während ihrer Arbeit als Lehrerin.

Organisieren, Leute einteilen, das kann sie. Mit sechs stiess sie zur Pfadi, heute ist sie Leiterin, ihre Kollegen dort sagen, sie sei geradlinig und mache keine Kompromisse.

An der Bewegung gefällt Wydler, dass sie die unterschiedlichsten Menschen zusammenbringe, «wir sind keine reine Jugendbewegung». Die aber, die mit dem Megafon einheizen, den Medien Auskunft geben, auf Bühnen stehen – die sind immer jung. Es sind mehrheitlich Gymnasiasten, Studentinnen, junge Erwachsene im Zwischenjahr vor dem Studium. Ein smarter Haufen, zukünftige Bildungselite.

Was aber macht die Klimajugendlichen so stark?

Sie sind professionell: Sie treten seriös auf, präsentieren sich als inhaltliche Experten, es gibt klare Regeln im Umgang mit Medien. Bevor man als Journalistin ein nationales Treffen besuchen darf, muss man sich ihrem «Media Kodex» verpflichten. Darin steht zum Beispiel: «Alle Teilnehmer müssen ihre Zustimmung geben, bevor eine Aufzeichnung gemacht wird, (…) und können die Veröffentlichung jederzeit ablehnen, wenn sie damit nicht einverstanden sind.»

Sie sind vernetzt: Weil die ganze Organisation über Whatsapp- und Telegram-Gruppenchats läuft und die Bewegung auch international gute Verbindungen hat, lassen sich schnell Massen mobilisieren. Als der Wetziker Schüler Jonas Kampus im Dezember 2018 einen Klima-Chat eröffnete und zum Protest aufrief, erreichte seine Nachricht innert weniger Tage einen Grossteil der Schweizer Schülerinnen und Schüler.

Sie sind organisiert: Beim landesweiten Treffen wird simultan übersetzt, alle halten sich an die Redezeit. In Winterthur finden wöchentliche Koordinationstreffen statt, im Chat werden Updates gepostet.

Am Telefon sagt Peter Rieker, der Erziehungswissenschaftler aus dem ersten Teil der Klimaserie, der an der Universität Zürich zu jugendlichem Engagement forscht: Im Gegensatz zu früheren Bewegungen, wie beispielsweise den 68ern oder der Studentenbewegung, müsse sich die Klimajugend nicht abarbeiten an repressiven Strukturen oder einer «verkrusteten» Gesellschaft. «Das Thema ist der Mehrheit der Erwachsenen bewusst.» Tatsächlich suchen die Schulen Wege, um Kundgebungen zu ermöglichen, und als die Winterthurer Aktivistinnen im November im Einkaufszentrum Rosenberg ohne Bewilligung demonstrierten, verzichtete die Eigentümerin auf eine Anzeige. Das Anliegen war ihr sympathisch.

Massgeblich unterstützt wird die Bewegung laut Rieker von den Eltern: «Dass die Jungen protestieren und die Erwachsenen den Arsch nicht hochkriegen, stimmt nicht.» Gerade bei jüngeren Jugendlichen sei das Engagement häufig überhaupt nur wegen der Eltern möglich. «Meine Eltern finden es cool, dass ich mich engagiere», sagt Selma Wydler. Bei Linus Stampfli, den der «Landbote» im ersten Teil dieser Serie porträtiert hat, war die Mutter bisher an jedem Streik dabei, sie hilft den Jugendlichen mit Kontakten, stellt ihnen Material zur Verfügung, spendet Geld für Flyer.

Sie kritisieren jenes System, das ihren Eltern Wohlstand ermöglichte

Die Unterstützung durch die Eltern ist aber nicht frei von Konflikten. Wenn die Jugendlichen auf der Strasse «System change, not climate change!» rufen, geht häufig vergessen, dass sie die Abschaffung jenes Systems fordern, das den Wohlstand ihrer Eltern erst ermöglicht hat – und damit auch die eigenen Privilegien. Noch nie hat eine Generation über ein höheres Bildungsniveau verfügt als die heutige, nie hatte eine Generation besseren Zugang zu Informationen über die Konsequenzen politischer Entscheide.

Zurück in der Winterthurer Marktgasse. An ihrem Stand versuchen zwei Aktivisten einem älteren Herrn zu erklären, warum es nötig sei, politisch etwas zu verändern, wenn man das Klima retten will. Daneben macht Selma Wydler weiter Werbung für die kommende Demo. Viele gehen einen weiten Bogen um sie, nur wenige nehmen einen Flyer. Doch davon lässt sich Wydler nicht beirren, sie lächelt unentwegt.

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