Umgehen mit dem Hass im Netz

Hate speech: Eine Expertin sagt, was man gegen Trolle und Wutbürger im Internet machen kann

Judith Bühler gibt Kurse, wie man mit Hassreden im Internet umgeht. Die 39-Jährige kennt das Phänomen aus eigener Erfahrung: Ihr interkultureller Verein Jass wurde während Monaten mit Hassposts und Drohungen eingedeckt. Und zwar in weiten Teilen nicht aus dem rechten Politspektrum.

Am zweiten Weihnachtsfeiertag 2017 nimmt Judith Bühler die Facebook-Seite von «Jass» vom Netz. Sie ist gerade am Kochen für Freunde, da sieht sie am Handy: Es rollt wieder eine neue Welle von Hasskommentaren an. «Wir wollten uns für das Zusammenleben und gegen Hass einsetzen», denkt sie sich. «Und jetzt wird über die Kommentare auf unserer Seite Hass gegen Minderheiten transportiert.»

Den Verein Jass hatte Bühler 2015 gegründet, als sie Soziale Arbeit an der ZHAW studierte. Verschiedene Integrationsfachstellen des Kantons und von Gemeinden arbeiten mit dem Verein zusammen, der sich für die Integration von geflüchteten, zugezogenen und muslimischen Menschen einsetzt. Jass organisiert Begegnungsanlässe wie Kochabende oder Vorträge, wo Geflüchtete und Angehörige von Minderheiten über sich selbst, ihre Erfahrungen und Erlebnisse sprechen.

Als «getarnte Islamistin» verunglimpft

Heute wird Bühler, die in Weisslingen aufwuchs und heute in Schlieren wohnt, auch als Expertin für den Umgang mit «Hatespeech» engagiert, also Hassreden im Internet. So berät sie zum Beispiel Jugendinfo Winterthur beim Projekt «Winfluence». Bühler kennt das Thema Hass im Web nicht nur vom Studium, sondern auch aus eigener Erfahrung.

Die Attacken begannen im Frühjahr 2017 auf der Facebook-Seite von Jass. Es waren ausländer- und islamfeindliche Polemiken, aber rasch ging es auch gegen die Person: «Ich wurde als heimliche Islamistin betitelt», sagt Bühler. «Es hiess, dass der Verein aus dem Ausland finanziert sei, um die Islamisierung in der Schweiz voranzutreiben.» Auch handfeste Drohungen seien dabei gewesen.

Der Stein des Anstosses war das Kopftuch. «Ich weigere mich, es zu verteufeln», sagt Bühler, selbst konfessionslos. Auch der Name des Vereins, der sich heute nur noch kurz «Jass» nennt, leitete sich ursprünglich von «Just a simple scarf» ab, also «einfach nur ein Tuch».

Der erste Shitstorm kam als Reaktion auf das selbstgedrehte Video «Jass gegen Hass». Dort trat, neben ausländisch aussehenden Menschen und der Zuger Ex-Politikerin Jolanda Spiess-Hegglin, auch eine Frau mit Kopftuch auf. Zunächst versuchte das Jass-Team, jeden Kommentar zu beantworten. «Aber auf jede Antwort kamen neue Wutbotschaften», sagt Bühler.

Über Monate ging es so weiter. An Vorträgen von Jass waren teils zivile Polizisten anwesend, weil im Vorfeld zu Störaktionen aufgerufen wurde. «Eine Mitarbeiterin von Jass, die ein Kopftuch trägt, mussten wir von allen öffentlichen Auftritten zurückziehen, weil sie massiv persönlich bedroht wurde», sagt Bühler.

Sie selbst machte weiter - und stiess mit ihrer Beharrlichkeit nicht nur auf Verständnis. «Gehen Sie halt nicht mehr auf Facebook, dann hört das auf», habe ihr eine Polizistin geraten, als sie Bedrohungen zur Anzeige bringen wollte. Bühler schüttelt den Kopf. «Das ist als würde man einer belästigten Frau sagen: Tragen Sie halt keinen Minirock.»

Generell, das Geschlecht: Wie auch die österreichische Journalistin Ingrid Brodnig in ihrem Buch «Hass im Netz» beschreibt, zielen Hasskommentare gegen Frauen rasch auf Geschlecht und Körper. Judith Bühler erzählt: «Da schrieben Leute: Die ist nur fürs Kopftuch, weil sie selbst keine Bikinifigur hat.»

Der über Monate andauernde Kampf begann Bühler zu zermürben. «Sich fast täglich mit negativen Angriffen zu befassen, raubt enorm Kraft», sagt sie. «Irgendwann zuckte ich jedes Mal zusammen, wenn mein Handy vibrierte. Nicht besonders gesund.» Sie hatte das Gefühl, nur noch zu reagieren, nicht mehr zu agieren.

Koordinierte Angriffe und Fake-Profile

Doch Judith Bühler studierte ihr Gegenüber genau. Und entdeckte Muster. Die Attacken passierten nicht zufällig. «Es gibt Facebook-Gruppen, wo Artikel gesammelt werden. Wenn da auf einen unserer Beiträge hingewiesen wurde, gab es viel mehr Reaktionen.» Das konnte sie mit eigenen Augen mitverfolgen, denn in einer geheimen Facebook-Gruppe mit mehreren hundert Personen war sie selbst Mitglied geworden, bevor der Ton sich radikalisierte.











Aufgrund von Beobachtungen und Tipps befreundeter Gruppen wurde auch klar, dass viele Kommentarschreiber mehrere Accounts bewirtschaften. «Hinter sieben Frauen-Profilen, die auf unserer Seite kommentierten, steckte auch mal ein einzelner Mann», sagt Bühler.

Mit diesen Fake-Profilen, auch «Sockpuppets» (Handpuppen) genannt, wird eine breite Zustimmung vorgetäuscht. Dieses Konzept wird auch von Computernetzen, den Bots, angewendet. Bühler ist aber überzeugt dass es in ihrem Fall Menschen gewesen sind. Und diese posteten mit Vorliebe dann, wenn ihnen langweilig war: An Feiertagen und regnerischen Sonntagen häuften sich die Posts. Oder spätnachts am Freitag oder Samstag, wenn die Menschen feiern und das Selbstmitleid der Daheimgebliebenen besonders bitter schmeckt.

Eine laute Minderheit gibt im Netz den Ton an

Bühler fand heraus, mit wem es sich zu reden lohnt – und mit wem nicht. Sie hörte auf, auf jeden Kommentar zu antworten. Beleidigende Inhalte oder Hetzposts löschte sie. «Das trug uns den Vorwurf der Zensur ein», sagt sie. «Aber ich musste wieder lernen, dass ich die Wahl habe, ob ich auf bestimmte Beiträge reagieren will oder nicht. Da musste ich auch meine innere Sozialarbeiterin überwinden, die sagte: Diese Menschen sind frustriert und haben Angst, du musst ihnen zuhören.» Judith Bühler, die sonst viel lacht, guckt jetzt ernst und bestimmt. «Nein, das muss ich nicht! Mit jemandem, der mich als ‘verdammte Terroristin’ bezeichnet, muss ich nicht in einen Dialog treten. Diese Menschen, die mich verletzen wollen, haben keinen Anspruch auf meine Zeit.»

Ist das Internet ein vergifteter Ort geworden, wo Aggression die Regel ist? «Nein», sagt Bühler. «Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass 90 Prozent der Inhalte im Internet von 10 Prozent der Benutzer geschrieben werden. Die meisten Leute sind stille Zuschauer.» Die Schreihälse, die sich als Mehrheit aufspielen, sind oft genug Scheinriesen.

Und Gegenrede ist möglich. Mit befreundeten Organisationen schloss sich Bühler zusammen, um bei bestimmten Beiträgen über Migranten-Themen positive Kommentare zu schreiben und zu liken, damit diese oben angezeigt werden. Das funktionierte auch, zumindest für Stunden – «Oft waren wir dann aber schlicht zu wenige».

In ihren Kursen zum Umgang mit Hatespeech bringt sie den Teilnehmern unter anderem bei, wie die Algorithmen von Facebook oder Twitter funktionieren. Wer Inhalte teilt, die ihn empören, hilft ihrer Verbreitung: Sie werden anderen Leuten nun umso häufiger vorgeschlagen. Und wenn ein Hasskommentar viel Gegenrede bekommt, steigt er nach oben und wird zuerst angezeigt. Ein wichtiger Teil ist das Selbst-Management: Nur wem es gelingt, Haltung zu bewahren, hält im Shitstorm stand. Wer sich hinreissen lässt, emotional zu posten, begibt sich schnell auf das Niveau der Provokateure.

Was im Internet passiert, muss nicht unbedingt im Internet bleiben, wie ein Blick auf die Vorfälle im deutschen Chemnitz zeigt, wo der Hass auf den Strassen marschierte. «Das Unsagbare wird erst sagbar», sagt Bühler. «Und irgendwann wird es machbar.»

Angriffe von Linken und selbsternannten Feministen

Aus welchem Hintergrund kamen die Angriffe in Bühlers Fall? «Soweit ich das beurteilen kann, vor allem von links», sagt Bühler. «Einige 68er und frühe Feministinnen tendieren zu Hass und einer Angst vor dem Islam. Mehrfach wurde ich angegangen, mich gegen den Islam zu äussern und gegen das Kopftuch, persönlich und an Veranstaltungen.»

Das will Bühler nicht in den Kopf. «Ich bin gegen Verbote und gegen Zwang im Allgemeinen. Es gibt tausend individuelle Gründe, ein Kopftuch zu tragen – wer tatsächlich mit den Menschen redet, merkt das schnell.» Genau diesen Dialog will Bühler in Gang bringen. Doch wie will sie ausschliessen, dass Frauen das Kopftuch nicht aus freien Stücken, sondern aus Zwang tragen? «In diesen Fällen ist nicht das Tuch das Problem, sondern der Zwang», sagt sie. «Und auch dann hilft man diesen Frauen nicht, wenn man ihnen Misstrauen und Ablehnung entgegenbringt.»

Lektüretipp: «Hass im Netz», Ingrid Brodnig, Brandstätter Verlag 2016, 230 Seiten.

«Die Polizistin sagte: Gehen Sie halt nicht mehr auf Facebook, dann hört das auf» Judith Bühler, Verein Jass.

Typ 1: Der Troll

Judith Bühler unterscheidet drei Typen problematischer Internet-Nutzer, eine Unterscheidung, die sich auch im Buch «Hass im Netz» von Ingrid Brodnig findet. Der Troll versucht, durch negative Aktionen grösstmögliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Dazu zielt er darauf ab, bei seinem Gegenüber Empörung auszulösen und die Debatte entgleisen zu lassen. Der Troll fühlt sich seinem Opfer intellektuell überlegen, sein Antrieb ist Schadenfreude. Das Thema selbst ist ihm dabei fast egal. Aber ist Provokation nicht ein legitimes Stilmittel, um Diskussionen in Gang zu bringen? «Doch», sagt Bühler. «Doch den Troll zeichnet aus, dass er kein Interesse an einem inhaltlichen Austausch hat. Er will nur nerven und verletzen.»

Gegenmittel: «Den Troll nicht füttern» ist eine alte Internet-Weisheit. Manche Provokationen sind allerdings so krass, dass sie nicht unwidersprochen stehen bleiben sollten. Hier ist Moderation oder Löschung nötig. Gespräche mit einem Troll dagegen führen dagegen nicht weiter.

Typ 2: Der Glaubenskrieger

Im Gegensatz zum Troll hat der Glaubenskrieger feste Überzeugungen, ja er verfolgt eine Ideologie. Wie der Troll ist er an einem Austausch nicht interessiert – er hält Andersdenkende für verblendet oder manipuliert (z.B. durch die «Lügenpresse»). Der Name kommt nicht von ungefähr, der Glaubenskrieger wähnt sich tatsächlich in einem (Informations-)Krieg. Sein Ziel ist es, eine Plattform zu erobern, um seine Ideologie zu reproduzieren. Dazu kapert er Diskussionen und nutzt sie, um seine Botschaft zu verbreiten und andere Meinungen niederzuschreien. Er benutzt gerne Aggression als Stilmittel. Provoziert er damit Gegenrede oder Moderation, inszeniert er sich als Opfer von «Zensur».

Gegenmittel: Da Glaubens­krieger nicht zu einer Diskussion bereit sind, aber oft mit hoher Frequenz neue Behauptungen und Beschimpfungen aufstellen, rät Bühler, ihre Beiträge auf den eigenen Seiten zu löschen oder zu moderieren, um nicht selbst zum Verbreiter ihrer Hass­botschaften zu werden.

Typ 3: Der Wüterich

In Ingrid Brodnigs Typologie heisst der Wüterich «Online-Rüpel». Er gleicht oberflächlich dem Glaubenskrieger, denn er pöbelt, teilt aggressive Inhalte und spielt auch mal auf die Person. Tatsächlich ist der Hässige aber oft einfach gefrustet oder gestresst und online fallen bei ihm die Hemmungen. Mit diesem Typus lohnt sich ein Gespräch, sagt Bühler. Wenn man den Provokationen sachlich entgegentritt und der Person dahinter Gesprächsbereitschaft signalisiert, kann ein Gespräch auf Augenhöhe stattfinden. «Respekt, den er erfährt, wird gespiegelt», sagt Bühler. Manche entschuldigen sich sogar. «So kann trotz unterschiedlicher Standpunkte ein Gespräch stattfinden.» Und das hat eine hohe Symbolkraft für die schweigenden Mitleser.

Gegenmittel: Ruhig und sachlich bleiben, den Menschen hinter der Aussage ansprechen. Der Hässige kann vom Gegner zum Verbündeten werden, weil er Mitlesenden demonstriert, dass ein respektvolles Gespräch möglich ist.

Text: Michael GrafKarikaturen: Ruedi WidmerBilder: Keystone / pdDigitale Umsetzung: Martin Steinegger

© Tamedia